Was macht Latein aus?

"Nach meinem Mahl habe ich abgewaschen und mich dann mit einer Tasse Nescafé in den Sessel gesetzt. Lampe an, jetzt finden die Nachbarn ihren Heimathafen wieder. Erst habe ich ein wenig Tacitus gelesen, um den Genever kleinzukriegen. Das klappt immer, darauf kann man Gift nehmen. Eine Sprache wie polierter Marmor, das vertreibt die bösen Dünste. Danach habe ich etwas über Java gelesen (...) Als nächstes las ich das Handelsblad (...) Der Rest war niederländische Politik (...) Dann noch einen Artikel über die Schuldenlast - die habe ich selbst - und über Korruption in der Dritten Welt, doch das hatte ich gerade viel besser bei Tacitus gelesen, bitte sehr: Buch II, Kapitel LXXXVI, über Primus Antonius (tempore Neronis falsi damnatus). Heutzutage kann niemand mehr schreiben, ich auch nicht (...)
Nie wird es wieder eine Sprache wie Latein geben, nie mehr werden Präzision und Schönheit und Ausdruck eine solche Einheit bilden. Unsere Sprachen haben allesamt zu viele Wörter, man sehe sich nur die zweisprachigen Ausgaben an, links die wenigen, gemessenen Worte, die gemeißelten Zeilen, rechts die volle Seite, der Verkehrsstau, das Wortgedränge, das unübersichtliche Gebrabbel."

aus: Cees Nooteboom: Die folgende Geschichte. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1991. S.17 ff.