Zum 100. Geburtstag von Gerhard Müller

Ehemaliger jüdischer Theodorianer wäre heute 100 Jahre alt geworden, doch wurde er 1944/45 ermordet.

Heute ist der 100. Geburtstag von Gerhard Müller. Der Sohn einer jüdischen Familie wurde am 24.10.1925 geboren. Über seine Kindheit wissen wir nicht viel, die Müllers sollen ruhig und zurückgezogen im Norden Paderborns gelebt haben. Als Gerhard sieben Jahre alt ist, kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Zwei Jahre später folgen die Nürnberger Rassegesetze – nun werden Juden staatlich und offiziell diskriminiert, ihr Leben ist weniger Wert. Wir wissen nicht, ob die Familie Müller religiös war oder einfach nur religiöse Vorfahren hatte, aber für die Nationalsozialisten war das egal - so oder so waren Gerhard und seine Familie laut ihrer antisemitischen Weltanschauung "Untermenschen".

Mit 10 Jahren wird Gerhard dann nach Ostern, zu Beginn des neuen Schuljahres, am Theodorianum eingeschult. Nach jedoch etwa sechs Monaten, am 31.10.1936, verlässt Gerhard das THEO wieder, warum, ist unklar. Vermutlich hat es aber mit der beruflichen Situation des Vaters zu tun. Denn im Oktober 1936 wird Gerhards Vater gezwungen, sein Geschäft für viel zu wenig Geld an einen "Arier" zu verkaufen. Auch in Paderborn findet die sogenannte "Arisierung" jüdischen Besitzes zugunsten der "Volksdeutschen" statt. Nach ihrer Enteignung verlässt die Familie Paderborn und geht nach Köln. Verschiedene Verwandte nehmen sich der Familie an, wir kennen wenige Einzelheiten. Ein Onkel von Gerhard flieht aus Deutschland, kurz bevor der Zweite Weltkrieg beginnt. Auch Gerhards Vater flieht irgendwann zwischen 1939 und 1942 nach Belgien, 1939 wurde er das letzte Mal in Kölner Verzeichnissen gelistet. Dann haben wir auch wieder mehr Informationen zu Gerhard und seiner Mutter: Sie wohnen in Köln in einem Haus, welches ein Zwangsquartier ist, bevor die Menschen, die hier leben, deportiert werden. Am 21.10.1941 werden dann auch Gerhard und seine Mutter in das Ghetto "Litzmannstadt", in der Stadt Lodz, im heutigen Polen, deportiert. Hier verliert sich die Spur wieder, wir haben nur noch sehr spärliche Informationen. Wir haben keinen Grund zur Annahme, dass Gerhard vor dem Mai 1943 verstorben ist. Am 23.5.1943 verstirbt seine Mutter in Lodz aufgrund der schlechten Lebensbedingungen. Wir gehen davon aus, dass Gerhard noch lebte, weil wir ansonsten vermutlich ebenfalls Dokumente, die seinen Tod angeben, über ihn vorliegen hätten. Parallel werden ab 1942 immer mehr Menschen in ein naheliegendes Vernichtungslager deportiert. Das betrifft vor allem jene, die nicht arbeiten können: Kinder, Kranke, Alte. Gerhard ist aber im Mai 1943 schon 17 Jahre alt - also alt genug, um zu arbeiten. Daher gehen wir davon aus, dass er mindestens bis Sommer 1944 im Ghetto verbleibt und arbeitet. Dann jedoch wird im Mai 1944 die endgültige Ermordung und Vernichtung der Menschen im Ghetto angeordnet. Im Januar 1945 wird das Ghetto schließlich von sowjetischen Truppen befreit. Gerhards Spur ist verloren, er lebt nicht mehr.

So weit waren wir mit unserer Recherche letztes Jahr in der AG Geschichte "Jüdische Schüler am THEO" gekommen. Als ich diesen Artikel geschrieben habe, wollte ich eigentlich nur recherchieren, in welches Vernichtungslager die meisten Häftlinge von Lodz kamen. Dabei stieß ich jedoch auf einen Artikel des Deutschen Historischen Museums und konnte nochmal eine neue Spur entdecken: im August 1944 wurden über 65.000 Menschen aus Lodz nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Wir können aber nicht bestätigen, dass Gerhard sich in diesen Transporten befand.

Auschwitz wurde etwa eine Woche nach Lodz befreit. Wir gehen also davon aus, dass Gerhard zwischen Mai 1944 und Januar 1945 ermordet wurde. Er war also 19 oder 20 Jahre alt.

Es ist nicht das einzige Schicksal, dass wir recherchiert haben. Aber Gerhard war unser erster Fall, der eindrucksvoll war. Der Name steht auch auf dem Denkmal der alten Synagoge. Und dennoch hat keiner von uns diesen Namen vorher im Zusammenhang mit unserer Schule gehört. Es ist uns ein Anliegen, dass der Name an unserer, an Gerhards alter Schule, bekannt ist. Dass er nicht wieder vergessen wird. Dass wir uns an das Leid erinnern, was ihm, weiteren jüdischen Schülern unserer Schule, und so vielen Millionen anderen widerfahren ist.

Recherche: Clara Frey, Helvia Lin (beide 9b) Mira Schuster (10a)
Text: Mira Schuster