Ein Streitgespräch zwischen Gotthold E. Lessing und Melchior Goeze

Kurz nachdem der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing (*1729, +1781) die religions- und kirchenkritischen Schriften „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ von Samuel Reimarus unter dem Titel „Fragmente eines Ungenannten“ herausgegeben hatte, war er scharfen Angriffen der hamburgischen orthodoxen Geistlichkeit ausgesetzt. Dabei geriet er vor allem in das Visier des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze. Der nun ausgetragene sogenannte „Fragmentenstreit“ zwischen Lessing und Goeze sorgte in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen. Folgende Szene zeigt eine Begegnung der beiden Kontrahenten.

Goeze: Wie kannst du es wagen, du Gotteslästerer, die Bibel zu verleugnen, indem du den Wahrheitsanspruch der Kirche infrage stellst?!

Lessing: Was du als Gotteslästerer bezeichnest, nenne ich einen vernunftgeleiteten Menschen, der versucht, Fragmente der Wahrheit zu ergründen, da dies allein den menschlichen, individuellen Wert ausmacht.

Goeze: Durch Gott und seine Repräsentanten auf Erden ist die Wahrheit für die Menschen in ihrer Gesamtheit zugänglich, wenn sie lediglich der göttlichen Verheißung und den Geboten folgen.

Lessing: Vor Gott und dessen Verheißung muss man sich dennoch mit der Vernunft rechtfertigen können. Das Ziel sollte sein, patriarchalische Selbstermächtigung durch ein neu zu erlernendes Verständnis kirchlicher, staatlicher und familiärer Vaterschaft zu ersetzen. Hierfür ist die Fähigkeit zur Prüfung der alten Gegebenheiten unumgänglich. - Predigt nicht Wasser und trinkt Wein! Rechtfertigt euch stattdessen selbst mit Vernunft vor Gott!

Goeze: Ist es nicht Rechtfertigung genug, dass der gesamte Staat und die bürgerliche Verfassung auf dem Glauben basieren? Ist es nicht Rechtfertigung genug, dass der Glaube aus tiefstem Herzen entspringt und die Christenheit ihrem Gott immerwährende Loyalität erweist?

Lessing: (Ach, wenn es doch nur so wäre...) Sie sprechen über Tugenden, die keine sind und solche, die auf Angst und Zwang beruhen. Ihr angebliche Repräsentanten Gottes brüllt mit gewaltsamer Donnerstimme veraltete Floskeln von der Kanzel und beruft euch dabei auf längst überholte Gegebenheiten. Niemand verfügt über ein Monopol der Wahrheit.

Goeze: Blicken Sie zurück in der Historie, mein lieber Herr Lessing, wann haben Samen der Rebellion jemals reife Früchte getragen? Nie – und ich werde Ihnen auch sagen, warum: Sie entstehen nämlich niemals aus der Hand eines Christen, sondern werden durch gottlose Heiden gesät. Nur Gott kann veranlassen, dass der Verbreitung dieses Unfugs in naher Zukunft ein Ende bereitet wird.

Lessing: Wer spricht denn von Rebellion, mein ehrenwerter Herr Pfarrer? Ich sagte doch lediglich, „Reflexion auf individueller Ebene“ sei das Stichwort; da haben Sie wohl etwas falsch aufgefasst. Das kann ja leicht passieren, wenn man seinen Verstand nicht selbst benutzt, sondern sich an Bevormundung erfreut.

Goeze: So etwas nennt sich Philosoph. Ihre „Grundsätze“ - närrische Einfälle eines Witzlings! Ihre „Beweise“ - nichts weiter als verstellende Bilder und Gleichnisse...

Lessing: Verstellend?! - Nein, vernünftig! Denn zufällige Geschichtswahrheiten, wie sie in der Bibel vorzufinden sind, können niemals Beweis von Vernunftwahrheiten werden.

Goeze: Vernunftwahrheiten, dass ich nicht lache! Ihr philosophisches Geschreibsel, von dem kein vernünftiger Mensch wissen kann, was es bedeutet, ist nichts als Verleumdung und Wichtigtuerei.

Lessing: Dass ich mich metaphorisch auszudrücken vermag, dafür kann ich nichts. Es ist mein eigener Stil, so wie jeder Mensch eine eigene Nase hat – das tut in dieser Angelegenheit jedoch nichts zur Sache. Ich wiederhole es noch einmal: Sie sind scheinheilig, wenn Sie sich nicht vor Gott rechtfertigen und stattdessen meinen, Sie hielten die vollkommene Wahrheit in Ihren Händen ohne nachgeforscht zu haben. Die Wahrheit ist nämlich, dass Sie nichts wissen und Ihr Glaube nur Leichtgläubigkeit ist.

Goeze: Ohne Zweifel werden Sie noch von mir hören, Sie Gotteslästerer!

Letztlich fand der Streit seine Fortsetzung, indem Lessing die „Bühne zu seiner Kanzel“ machte. Der aufgeklärte Dichter brachte seine Auffassungen einer vernunftbegründeten Religion mit dem „Nathan der Weise“ auf die Bühne und setze damit ein letztes Ausrufezeichen in dem Gelehrtenstreit. Der Streit zwischen Lessing und Goeze steht damit also unmittelbar mit der Entstehungsgeschichte dieses „dramatischen Gedichts“ in Zusammenhang.


Ein kreativer Text zum Fragmentenstreit von
Esther Rohde, Madita Weiser und Johanna Weinert (Q1)